Mit Volkswagen verbindet mich eine persönliche Geschichte. Ich habe durch Volkswagen nicht nur ein Thema für meine Diplomarbeit entdeckt, sondern damit auch den Grundstein für meine ersten beruflichen Schritte in der Digitalberatung gelegt. Das Thema Shitstorms und deren Analyse hat mich danach nicht mehr losgelassen. So kam es auch, dass ich nicht nur einen Volkswagen Shitstorm, der als Datensatz für meine Diplomarbeit diente, sehr aufmerksam verfolgt habe. Nach meiner Diplomarbeit gab es noch einen zweiten. Gemeint sind die beiden Shitstorms rund um die beiden Greenpeace-Kampagnen „The Dark Side“ und „#Dieselgate“.
Um einige Zusammenhänge wie Shitstorms funktionieren möglichst unterhaltsam zu erklären, möchte ich meine Geschichte teilen und Learnings aus mittlerweile fast 10 Jahren Shitstorm-Analyse teilen:
- Wie kam es, dass ich während des Studiums ganz nah am „The Dark Side“ Shitstorm dran war?
- Was war das Kernergebnis meiner Diplomarbeit?
- Wie passt dies mit der jüngsten Forschung von Professor Meffert zusammen?
- Was sind gute Verhaltensregeln für gutes Shitstorm-Management?
- Welche materiellen, wirtschaftlichen Folgen können Unternehmen im Shitstorm ereilen?
- Welche Hacks kann man auch in Shitstorm-freien Zeiten nutzen, um eine starke Social Media Reputation aufzubauen?
- Was bedeutet das für die Zukunft von Theorie und Praxis im Social Media Marketing?
Falls Dich die Antworten auf diese Fragen interessieren, komm‘ gerne mit auf meine Reise. Sie ist zwar lang, aber auch sehr spannend. Versprochen ;)
Wie ich ganz nah an den ersten Volkswagen-Shitstorm geriet
Meine Geschichte beginnt mit der Idee von ein paar Freunden und mir während unseres Marketing Studiums in Münster: Es war im Sommer 2010, als wir die Idee hatten, das Thema Corporate Social Responsibility (CSR) neu zu denken. Wir kamen gerade aus einem Vortrag über Cause Related Marketing. Shamsey Oloko hatte uns auf dem Symposium Oeconomicum Münster total elektrisiert. Wir standen in der Sonne vor dem Münsteraner Schloss, und ohne ein paar Worte ausgetauscht zu haben wussten wir:
Das muss einen Kongress bekommen! Ein Vortrag ist zu wenig!
Es sollte um Konsumentenverantwortung gehen, um Consumer Social Responsibility, wie wir es später nannten. Ein Konzept, das auch in der Forschung gerade Auftrieb bekam. Unsere Akquise hat noch am gleichen Tag begonnen. Ich fragte nach den Visitenkarten von Shamsey Oloko und Bernd Kundrun, die unser Projekt ebenso wie Prof. Meffert noch maßgeblich beeinflussen sollten.
Unser Wunsch-Schirmherr: Prof. Meffert
Direkt nach der ersten Idee ging unsere Arbeit los. Prof. Meffert sollte unser Schirmherr werden. Wir machten unsere Hausaufgaben, entwickelten ein Konzept, akquirierten erste Partner und hatten somit etwas Handfestes in die Wagschale zu legen, um Prof. Meffert von unserem Vorhaben zu überzeugen.
Die wissenschaftliche Erdung
Ich erinnere mich noch sehr gut an die erste Antwort auf unsere Anfrage zur Schirmherrschaft:
Ihre Unterstützungsanfrage zum Kongress „Marketing Innovationen 2011“ habe ich mit Interesse zur Kenntnis genommen. […] Gleichwohl ist die Notwendigkeit einer begrifflichen Klarheit anzumerken, da es sich bei dem Konzept „Consumer Social Responsibility“ nach meinem Verständnis um ein ausschließlich nachfragerbezogenes Verhalten handelt. […] Ich bitte Sie, einen Termin mit meinem Sekretariat zu vereinbaren.
Es war im Grunde Prof. Mefferts erste Tat für unseren Kongress. Er erdete unser Thema in die Wissenschaft, wodurch unser Projekt schlussendlich vom Boden abheben konnte. Wer mehr über das Ergebnis wissen möchte, ist eingeladen in diesem Heftchen zu blättern. Dieser Kongress war das interessanteste Erlebnis während meines Studiums, an das ich noch immer sehr gerne zurückdenke.
Mit der Hilfe von Professor Meffert und einem am Ende über 30köpfigen ehrenamtlichen Team haben wir eine tolle Veranstaltung für das Gute im Marketing erleben dürfen. Allerdings sollte dies nicht der einzige wertvolle Output dieses Tages sein.
Volkswagen – Der unfreiwillige Praxisfall
Der Kongress brachte unverhofft einen Praxisfall der Nachhaltigkeitskommunikation mit sich. Wir hatten mit Volkswagen einen großen Konzern als Partner gewonnen, der Marketing mit dem Thema Nachhaltigkeit für sich entdeckt hatte. Das Team „Nachhaltigkeitsstrategie“ aus Wolfsburg war zu Gast. Volkswagen warb derzeit mit der Marke BlueMotion. Diese Marke steht auch heute noch als VW-Siegel für das umweltfreundlichste Auto seiner Klasse. Der folgende BlueMotion Spot lief regelmäßig im Fernsehen. In Sekunde 40 fällt der Messwert „87g CO2“ auf. Der Feel-Good-Effekt, den Professor Meffert bereits zu dieser Zeit für nachhaltige Produkte erkannt hatte, wurde in der Kommunikation perfekt umgesetzt.
Vor dem Kongress – genauer gesagt zum Super Bowl 2011 – hatte der Autohersteller mit einem weiteren Spot eine Star Wars Kampagne gestartet, die weltweit für große Reichweite gesorgt hatte. Ein kleiner Junge lief im Darth-Vader Kostüm herum, und versuchte wie im Film Gegenstände durch bloße Gedankenkraft zu bewegen.
Drei Tage vor unserem Kongress wurden beide Kampagnen durch Greenpeace für einen Aufruf zum Shitstorm „verwertet“.
Mit dem Jungen im Darth Vader Kostüm hatte Volkswagen Greenpeace eine unverhoffte Steilvorlage gegeben. Darth Vader – der ultimative Bösewicht der Star Wars Saga – sollte fortan spielerisch für negative Seiten des Konzerns stehen. Eine Mannschaft von Jedis – die gute Seite in den Star Wars Filmen – versammelte sich gegen Volkswagen. Auf Facebook wurde die Kampagne verlängert: Man konnte mit seinem eigenen Lichtschwert Freunde rekrutieren um Kritik zu äußern. Ein viraler Effekt war technisch vorprogrammiert.
Greenpeace verfasste seitenweise Kritik gegen VW
Neben der emotionalen Kampagne legte Greenpeace in einem sehr ausführlichen Report seine Position dar, dass Volkswagen Greenwashing betreiben würde. Der Kern-Vorwurf war, dass der Konzern gegen strengere CO2-Richtlinien der EU vorgehe, während er sich in seinen Werbespots als umweltfreundlich(st)er Autohersteller präsentierte. Prof. Backhaus nennt dies in seinem Buch „Strategisches Marketing“ eine Kommunikationsdivergenz.1
Meine damalige Erkenntnis aus „The Dark Side of Volkswagen“: Die Konsumenten übernehmen bereits Verantwortung!
Zurück zum Kongress: Unsere Kernfrage war, wie Unternehmen Konsumenten dazu bewegen können, mehr Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft zu übernehmen. Der Praxisfall mit VW zeigte mir, dass dies im Grunde schon geschah. Die User schafften durch massenhafte Beteiligung in Social Media eine Reichweite für die Greenpeace Kampagne, die Volkswagen zu mehr Nachhaltigkeit anhalten wollte. Die Konsumenten übernahmen aus ihrer Sicht Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft. Vielmehr wurde unsere Kernfrage sogar umgedreht: Konsumenten versuchten ein Unternehmen dazu zu bewegen, mehr Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft zu übernehmen. Ich hatte die Vermutung, dass Unternehmensaktivitäten, die aus Sicht von Verbrauchern nicht ausreichend nachhaltig sind, eine Ursache von Shitstorms sein könnten. Daher entschloss ich mich dazu, meine Diplomarbeit darüber zu schreiben.
Neugier auf dem Weg zur Diplomarbeit
In der weiteren Zeit verfolgte ich das Thema aufmerksam. In diesem Facebook Post freute ich mich darüber, dass „Shitstorms“ größere Aufmerksamkeit bekamen.
Kernergebnis der Diplomarbeit: Es geht um mehr als Umweltschutz allein
Meine Diplomarbeit brachte
- eine Definition von Shitstorms,
- Ursachen, Effekte, Verstärker von Shitstorms und
- Hilfsmittel gegen Shitstorms zutage.
In Bezug auf meinen ersten Gedanken nach dem Kongress, dass Shitstorms rund um das Thema Nachhaltigkeit entstehen, gab es eine neue spannende Erkenntnis: Shitstorms drehen sich thematisch um noch weitere Themen, die den Wertevorstellungen der Nutzer zugrundeliegen. Abstrahiert man von der Unsachlichkeit der kritischen Kommentare in einem Shitstorm, bleibt Feedback übrig. Dieses enthält persönliche Wünsche und Vorstellungen, die aus Sicht der Nutzer für das eigene Leben essenziell sind.2 Davon gibt es selbstverständlich mehr, als nur den einen Wert der Nachhaltigkeit. Es gibt ein ganzes Werte-Schema.3 Für jeden einzelnen Wert aus diesem Schema lässt sich ein Shitstorm-Beispiel finden:
Wert | Marke | Beispiel-Shitstorm | |
---|---|---|---|
1. | Gesundheit | Popp Feinkost | Krebserreger im Aufstrich |
2. | Freiheit | Uber | Travel Ban |
3. | Erfolg / Karriere | Jos Luhukay | Ausbleibender sportlicher Erfolg |
4. | Natur | Volkswagen | #dieselgate |
5. | Gemeinschaft | HOCHBAHN | Umgang mit einem Menschen mit Behinderung |
6. | Familie & Kinder | kinder Überraschung | Kinderarbeit |
7. | Sicherheit / Zuhause | Borussia Dortmund | Fan-Ausschreitungen |
8. | Anerkennung | Nikon | Fragwürdige Kür eines Gewinnspiel-Siegers |
9. | Gerechtigkeit | Blogbeitrag zum Umgang mit „Gutmenschen“ | |
10. | Nachhaltigkeit | Nestlé | #FragNestlé |
11. | Qualität | Toblerone | Schokoriegel im Diät-Format |
12. | Religion | Rihanna | Kommerzielle Nutzung religiöser Inhalte |
13. | Authentizität | RTL | #verafake |
14. | Individualismus | RTL | Lästerei über arte-Zuschauer |
Da sich die Werte von Einzelpersonen individuell unterscheiden, unterscheiden sich diese Werte auch zwischen Zielgruppen. Manche Werte können auch konfliktär zueinander sein. So gibt es einerseits Personen, denen Nachhaltigkeit und Klimaschutz sehr wichtig sind. Gleichzeitig gibt es Personen, die sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen würden, wenn sie ihren Diesel gegen ein Elektroauto eintauschen müssten. Es kann daher herausfordernd sein, zu entscheiden, welche Werte man sich als Marke auf die Fahnen schreiben möchte.
Eine kleine Hilfe dabei gibt es dennoch, wenn man die Werte der breiten Bevölkerung ansprechen möchte: Die Positionen 1. bis 10. der Tabelle stellen eine Rangfolge der Werte dar, die laut Wippermann und Krüger (2015) aktuell am stärksten in Deutschland vertreten sind. Je höher der Wert in der Tabelle steht, desto mehr Personen in Deutschland sehen diesen Wert als wichtig an. Diese Auswertung wird als „Werte-Index“ jedes Jahr erneuert. Marken, die sich also auf die weiter oben gelisteten Werte fokussieren und diese in ihr Marketing einbeziehen, sprechen damit potenziell eine größere Community an.
Ab Position 11 habe ich weitere Werte eingefügt, die bei Shitstorms ein wiederholtes Thema sind. Qualität ist ein Wert, der in der Wissenschaft zu Customer Satisfaction und Service Quality ausführlich behandelt wird. Kunden stellen funktionelle Erwartungen an Produkte und Dienstleistungen, die sie erfüllt haben möchten. Erfüllt das Produkt oder der Service diese nicht, kann es zum Shitstorm kommen. Religion, Authentizität und Individualismus sind weitere Werte, die für Shitstorms thematisch relevant sind. In Hoyer und MacInnis (2012) gibt es dazu genauere Informationen.
Regeln für ein gutes Shitstorm Management
Gutes Shitstorm Management ist in der Theorie recht simpel, in der Praxis aber nicht unbedingt einfach realisierbar. Organisatorische, rechtliche und unternehmenskulturelle Faktoren können den Handlungsspielraum beeinflussen. Folgende Punkte sind für ein erfolgreiches Krisenmanagement, welches das Unternehmen aus der Krise holt und langfristig wieder in ruhige und erfolgreiche Gewässer bringt am Wichtigsten.
- Schnelle Reaktion
(So schnell wie möglich, mindestens binnen 24h) - Reaktion über den Kanal, auf dem die Kritik erstmalig aufgeflammt ist.
(weitere Kanäle willkommen, aber nicht unbedingt erforderlich) - Neutrale Dritte einschalten, um die Glaubwürdigkeit der Reaktion zu erhöhen.
- Kritikoffenheit / Kollaboration mit der Community
(s. Jeff Jarvis „Radically Social Company“) - Prävention betreiben
- Organisationsstrukturen handlungsfähig machen
- Social Media & Suchmaschinen Monitoring aufsetzen
- Wertevorstellungen der Zielgruppen kennen
- Manpower für Beantwortung massenhafter Kommentare bereithalten
- Schulung des Community Managements (Deeskalation, Profiling, etc.)
Gute Nachrichten: Es funktioniert auch umgekehrt
Das Tolle ist:
- Wer im Shitstorm klug reagiert, kann mit einem Candystorm belohnt werden.
- Wer sich mit seinen Geschäftspraktiken an Werten orientiert, kann ebenfalls im Candystorm landen.
Ein Candystorm ist das Gegenteil von einem Shitstorm. Die User lassen mit massenhaft wohlwollenden Kommentaren Lob auf eine Marke hinab regnen. Das Ergebnis ist positives Word of Mouth, laut Nielsen (2013) die effektivste Form der Werbung. Keine andere Form der Werbung ruft so viel Vertrauen und Loyalität hervor.
Praxisfälle von Candystorms
Es mag daher nicht verwunderlich sein, dass sich für jeden Wert aus dem oben genannte Werte-Schema auch ein Candystorm finden lassen kann:
Wert | Marke | Beispiel-Candystorm | |
---|---|---|---|
1. | Gesundheit | Star Wars | Erfüllung eines letzten Wunsches |
2. | Freiheit | Edward Snowden | US-Petition für Begnadigung |
3. | Erfolg / Karriere | Tischlerei Hartl | Job-Angebot für Flüchtling |
4. | Natur | Leo DiCaprio | Oscar Rede für Klimaschutz |
5. | Gemeinschaft | Fisherman’s Friend | Geschmacksrichtung gegen Rechts |
6. | Familie & Kinder | Wege aus der Einsamkeit | Nachbarschaftshilfe für Senioren |
7. | Sicherheit / Zuhause | Polizei Köln | Lob für sicheres Silvester |
8. | Anerkennung | Financial Times | Lob für guten Journalismus |
9. | Gerechtigkeit | Michael Praetorius | Loyalität mit asiatischem Fahrgast |
10. | Nachhaltigkeit | Audi | Super Bowl Ad 2017 |
11. | Qualität | Niemetz | Social Media verhindert Insolvenz |
12. | Religion | Lindt Schokolade | Positionierung für Religionsfreiheit |
13. | Authentizität | Marco Reus | Vertragsverlängerung |
14. | Individualismus | Henkel | Pril: Rage Guy Edition |
#dieselgate: Zwei Shitstorms binnen 5 Jahren zum gleichen Thema
Verfolgen wir den Praxisfall von „The Dark Side“ von 2011 weiter. Greenpeace hatte im Report eine Empfehlung in der Executive Summary gegeben:
The company has the capacity to do so much better. […] it would be able to reduce its fleet emissions and oil consumption dramatically.
Es ist aus gesamtwirtschaftlicher, fachlicher und menschlicher Sicht doppelt traurig, was dann 2015 geschah. Es ereignete sich das sogenannte #Dieselgate, welches genau in die gleiche Kerbe schlug: Volkswagen hatte Emissionswerte seiner Autos manipuliert, und damit erneut die Werte Natur, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Authentizität außer Acht gelassen. Die Emissionswerte von Dieselmotoren wurden im Testbetrieb durch eine Software gering gehalten, und konnten im normalen Betrieb der Dieselautos aber so nicht eingehalten werden. Hinter den Kulissen von VW war dies bekannt. Ein Senior Manager wurde laut Reuters derzeit sogar über die Manipulationssoftware informiert.
Wirtschaftliche Folgen von #dieselgate
Die kurzfristigen wirtschaftlichen Folgen waren eklatant:
- 2015 machte Volkswagen den größten Verlust der Konzerngeschichte.
- Die VW-Mutter Porsche machte 2015 eine halbe Milliarde Euro Verlust.
- Der Vorstandschef Winterkorn trat zurück.
- Die Aktien von VW und Zulieferern wie Kuka & Continental stürzten ab.
- Durch den Aktiensturz nahm das Vermögen der Muttergesellschaft Porsche kurzfristig um 38% ab.
- Gleichzeitig befand sich die Aktie des E-Auto Herstellers Tesla Motors im Höhenflug.
- VW gab eine Gewinnwarnung aus, und stellte 6,9 Milliarden Euro zurück.
- Der Markenwert von Volkswagen fiel um ein Fünftel geringer aus, als es vor dem Vorfall prognostiziert wurde.
- Die Dividende von VW-Aktien ging um mehr als 95% zurück
Auch langfristig litt Volkswagen nach der #dieselgate-Affäre:
- In den USA musste Volkswagen 15 Milliarden Euro Strafe zahlen.
- Die Investitionen in die Marke VW wurden um eine Milliarde Euro pro Jahr gekürzt.
- 2,4 Millionen Autos mussten allein in Deutschland zurück gerufen werden
- Die Kosten für Nachbesserungen betrugen weltweit 16,2 Mrd. Euro.
- Die VW-Aktie erholte sich erst 2021 – mehr als 5 Jahre später – wieder von ihrem Kurseinsturz in 2015.
Was sagt die Forschung zu The Dark Side, #Dieselgate und Volkswagen?
Wie es um die detaillierten geschäftlichen Auswirkungen der VW-Krise im Detail bestellt war, das weiß natürlich nur Volkswagen selbst. Die Forschung suggeriert aber leider nicht viel Positives:4
- Die Cash-Flows nach einer Krise verringern sich.
- Der Marktanteil von Konkurrenten nimmt zu.
- Der Marketing-Mix wird weniger effektiv, dies zeigt sich in schlechteren Elastizitäten der Marketinginstrumente in der Marktreaktionsfunktion
Es ist vor dem Hintergrund solch schlechter Prognosen schön zu sehen, wenn in Fachkreisen Lösungen diskutiert werden, die ethisches Verhalten als wirtschaftlich lukrativ herausstellen. Eine Podiumsdiskussion mit Professor Meffert in 2016 startete mit den folgenden Worten:
VW hat gezeigt, dass wir an einem Tipping Point sind, wo unethisches Verhalten teurer wird als ethisches.
Die Transparenz in der digitalen Gesellschaft ist so hoch, dass unethisches Verhalten relativ schnell aufgedeckt wird. […] Konsumenten fordern zunehmend vernünftiges Verhalten ein.
Prof. Meffert fügte hinzu:
Diejenigen die unethisch sind und Verlust machen, sind „die Doofen“. Aber rechts oben in den Quadranten kommen gute Marketing-Leute und Unternehmer stufenweise hin – denn dort sind die Gewinne angemessen und ist die Ethik gut.
Ethik als Schlüssel zum Gewinn nach dem Shitstorm – Wie soll das gehen?
Was meint Professor Meffert mit guter Ethik und angemessenen Gewinnen im Detail? In neueren Interviews und Veröffentlichungen werden immer wieder seine „4 Is“ erwähnt: Innovation, Integration, Integrität und Individualität. Sie dienen als Ergänzung des Marketing Mix, die den Menschen noch konkreter in den Mittelpunkt der Unternehmensaktivitäten stellt.
Mit den „4 Is“ ist im Einzelnen folgendes gemeint:
- Integration:
Die Marketing Instrumente sollten im Sinne einer „One-Voice-Policy“ abgestimmt sein. - Integrität:
Das Handeln sollte verantwortungsvoll und ethisch sein. - Innovation:
Kreativität und Mut für Neues sollten das unternehmerische Handeln bestimmen. - Individualität:
Die Angebote sollten passgenau für die Kunden des Unternehmens zugeschnitten werden.
Wenn ich dieses Konzept versuche mit den obigen Erkenntnissen zu verbinden, kristallisieren sich die folgenden Empfehlungen für Unternehmen in einem Shitstorm heraus:
1. Integration: Shitstorm-Reaktionen sollten mit einheitlicher Stimme abgegeben werden.
Auf Shitstorms gemünzt bedeutet „One-Voice-Policy“, dass verschiedene Individuen des Unternehmens und verschiedene Kanäle, auf denen das Unternehmen kommuniziert, eine einheitliche Nachricht absenden sollten. Hierbei hilft die Einrichtung eines Krisenstabs, der alle Mitarbeiter mit Storylines und Kommunikationspaketen versorgt.
Vorsicht: Sprechverbote für Mitarbeiter außerhalb der CorpComm zu erteilen wirkt am Ende des Tages unnahbar und hilft nicht weiter. Es werden bei einem Skandal mit der Reichweite eines Shitstorms sowieso alle Mitarbeiter auf die Angelegenheit angesprochen. Besser – wenn auch organisatorisch herausfordernder – ist es dann, mit der gesamten Belegschaft geschlossen aufzutreten.
Die persönliche Note des einzelnen Mitarbeiters, wenn er sich zum Thema äußert, fördert dabei die Authentizität der Reaktion und schafft damit Vertrauen. Ich weise auch gerne noch einmal darauf hin, dass Authentizität sich auch als Wert im oben gezeigten Werte-Schema wiederfindet, und entsprechend authentisches Verhalten von Unternehmen belohnt wird.
Last but not least hilft es, die Reaktion in jedem Fall auf dem Kanal abzugeben, auf dem die Kritik das erste Mal aufgeflammt ist (so wie zum Beispiel Burger King es vorgemacht hat). Mit diesem Vorgehen rollt man die virale Welle der Kritiker „von hinten“ auf und sorgt dafür, dass diejenigen User (Punkte im einem Verteilernetz), die die Kritikwelle zuerst ausgelöst haben, sich vom Gegenteil überzeugen. Gegebenenfalls können sie dann auch helfen, diese Kritikwelle durch Verbreitung der Reaktion wieder „einzufangen“.
2. Integrität: Werteorientiertes Handeln muss schnell erfolgen und überwacht werden.
Einerseits ist es wichtig für Unternehmen, Shitstorms als dringendes Feedback zur eigenen ethischen Positionierung zu verstehen. Die ethische Ausrichtung der Unternehmensaktivitäten auf die oben genannten Werte ist ebenso wichtig, wie die verantwortungsvolle Überprüfung, ob dieser Kurs noch eingehalten wird. Verantwortungsvoll heißt in diesem Kontext, dass Reaktionen schnell zu erfolgen haben. Schrillt der Shitstorm vor der Haustür und das Unternehmen bleibt untätig, bleibt es der Öffentlichkeit mindestens die Verantwortung schuldig zu überprüfen, ob an der Kritik „etwas dran sein“ könnte. Falls ja, wären Unternehmensaktivitäten nicht mehr „im Lot“ und im Umkehrschluss unethisch.
3. Innovation: Nachhaltigkeits-KPIs sollten bei unternehmerischen Zielen eine Rolle spielen.
Oft angemerkt und auch hier relevant: Der kurzfristige Gewinn birgt langfristige Gefahren. Wenn es in einem Unternehmen in erster Linie darum geht, den Gewinn der aktuellen Geschäftsperiode a.k.a. Amtszeit des Vorstandsvorsitzenden zu maximieren, bleiben dadurch langfristige Effekte außer Acht. Das betrifft auch die Gewinne von Morgen, die vom heutigen ethischen Verhalten abhängen. Klar definierte Nachhaltigkeits-KPIs, die in Nebenbedingungen für wirtschaftliche Optimierung und in die Leistungsbeurteilung von Managern einfließen, könnten dabei helfen. Könnten dies CO2 Emissionen oder die wahrgenommene Qualität der eigenen Produkte sein? Hier liegt es sowohl an Unternehmen als auch an der Forschung kreativ zu werden und tiefer ins Detail zu gehen.
4. Individualität: Das Feedback jedes einzelnen Users sollte als wertvoll betrachtet werden.
Konsumenten- und User-Feedback – ob in einem Shitstorm oder nicht – sollte in den Marketing-Prozess eingebunden werden. 76% der europäischen Kunden sind laut Nielsen bereit dazu, zu einem anderen Anbieter zu wechseln, wenn Qualität und Service schlecht sind.5 Unternehmen sollten außerdem die Werte ihrer Zielgruppen kennen, damit sie bedeutungsvolle Beziehungen zu ihnen aufbauen können. Glücklicherweise komme nicht nur ich zu dieser Einschätzung, wie im Werte-Index 2016 berichtet wird.6
Das Feedback in sozialen Medien beinhaltet massenhaft Informationen zu Defiziten oder auch Stärken, die User in Qualität, Service oder der Einhaltung ihrer individuellen Werte wahrnehmen. Wer dies nicht als eine Schatzkiste für das Unternehmen versteht, verpasst wertvolle Chancen. Feedback ist das Gold einer jeden Customer Journey. Wir müssen es nur heben wollen.
Ebenso hilfreich ist es, wie bereits im Punkt Integration angesprochen, die Mitarbeiter in die Krisenkommunikation mit einzubinden, um diese persönlicher und weniger „artifiziell“ zu machen. Sehr unterhaltsam und empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang auch ein Vortrag von Sascha Lobo zum Thema Shitstorms aus dem Jahr 2010. Mit den folgenden Zeilen wird denke ich sehr gut klar, dass persönlicher Umgang im Rahmen einer Shitstorm-Reaktion ein höheres Wirksamkeitspotenzial hat, als eine einzelne Pressemeldung.
Obwohl ich nicht unbedingt sagen möchte, wie man mit Kritik im allgemeinen umgehen kann, kann ich einen Hinweis darüber geben – gerade was Konzerne betrifft: Ich bin der festen Überzeugung, dass im 20. Jahrhundert professionelle Kommunikation eine absolute Illusion war. Da haben ein paar Fachjournalisten, Werber, PR-Leute und auch Journalisten in so einer speziellen Öffentlichkeit gedacht, sie könnten Kommunikation kontrollieren, und das stimmt überhaupt nicht. Das hat noch nie gestimmt. Nur auf einmal kommt das Internet, und sie merken: „Oh! Da sind ja Menschen!“ Dieser Feedback-Kanal zeigt eigentlich nur eins […]: Es prallen zwei Welten aufeinander. Die echte Welt von Menschen, die so reden wie Du und ich […] und diese artifizielle Welt, die sich darin ausdrückt wenn man so eine Pressemitteilung liest von einem x-beliebigen Unternehmen in irgend einem Bereich […]. Dieser ganze Kram ist eine Illusion.
Fazit
Marketing-Praxis und Wissenschaft befinden sich in einer spannenden Zeit. Es bleibt abzuwarten, wie wir diese Chance mehr und mehr für uns nutzen können. Wenn wir die genannten Punkte anpacken, kann eine Transformation hin zu mehr werteorientiertem Marketing gelingen.
Quellen in der guten alten Papierform
- Backhaus, Schneider (2009): Strategisches Marketing, S. 39.
- Diese Definition ist angelehnt an Wippermann, Krüger (2015): Werte-Index 2016, Wippermann (2011): Der gemeinsame Nenner und Hoyer, MacInnis (2012): Consumer Behavior.
- Die hier aufgeführten Werte werden im Detail ebenfalls in den Büchern Wippermann, Krüger (2015): Werte-Index 2016 und Hoyer, MacInnis (2012): Consumer Behavior. definiert.
- Ich fasse hier die Ergebnisse der Studien von Xueming Luo und Harald Van Heerde et al. zusammen.
- Nielsen (2013): How loyal are your customers?
- Siehe Wippermann, Krüger (2015): Werte-Index 2016, S. 14.